texte_zuhause375
© awg_alleswirdgut: urban.sushi (1) 
 


2000

Zuhause. Neue Perspektiven des Wohnens.

Vortrag im Rahmen der Vortragsreihe „Architektur und Politik“ an der Technischen Universität Wien, Institut für Gebäudelehre

Über „Wohnen als Zukunftsvision“, einen Wettbewerb, und was dabei herauskommt.

„Das Zentrum des Palastes soll den weniger lautstarken Aktivitäten in den Speisesälen, der 'Börse', dem Beratungszimmer, der Bibliothek, dem Studiensaal und so weiter vorbehalten sein. An dieser zentralen Stelle befindet sich auch der Tempel, Der Ordnungsturm, das Telegraphenamt, die Brieftauben, das Observatorium, das Glockenspiel und hinter dem Paradehof ein Wintergarten mit immergrünen Pflanzen.“
(Der französische Sozialutopist FRANCOIS FOURIER um 1830 über seinen Siedlungsversuch „La Phalanstère“) (2)



2002

WOHNPASTE STATT WOHNBAU?

Überarbeitung des Vortrags „Zuhause. Neue Perspektiven des Wohnens“

WOHNEN ALS ZUKUNFTSVISION – 1

Beginnen wir als Beispiel mit einem internationalen Ideenwett-
bewerb für Architektur, in dem, am Übergang ins 21. Jahrhundert, zukunftsweisende Wohnkonzepte und Wohnideen gesucht wurden: Der Wettbewerb „Future Vision Housing“ wurde im Jahr 2000 vom Architekturforum Oberösterreich zusammen mit dem Art & Tek Institute der Linzer Universität für Gestaltung ausgeschrieben, im Oktober wurden die Preisträger bekannt gegeben. Die Wettbewerbsbetreuerin schreibt dazu in einem Vorbericht im Oktober 2000 in der Architekturzeitschrift „Arch+“:

„Der Wettbewerb hatte keine spezifischen Vorgaben. Die Entwicklung neuer Wohnkonzepte sollte sowohl inhaltlich als auch formal und medial völlig frei sein, die einzige Prämisse war, dass die Projekte zukunftsweisend sein sollten.“ (3)

Der Wettbewerb selber definierte sich in der Tradition der Moderne und knüpft somit in einer noch offenen Gegenwart an eine klar umrissene architekturgeschichtliche Vergangenheit an. Insgesamt wurde eine 4-teilige Wettbewerbsreihe mit den Generalthemen „Arbeit, Wohnen, Erholung und Verkehr“. konzipiert.

„Im Mittelpunkt steht ein erweiterter Architekturbegriff jenseits traditioneller Definitionen. Doch gerade weil sich die Grenzen zwischen unterschiedlichen Disziplinen, aber auch jene innerhalb der Disziplinen heute zunehmend auflösen, sind sie im konkreten Fall durch die Orientierung an der Funktionstrennung der Moderne strikt gesetzt.“ (4)

Die Jury von „Future Vision Housing“ war durchaus prominent mit Ben van Berkel, vertreten von Olaf Gipser, Odile Decq, Hans Frei, Bettina Götz / Artec und Margit Ulama besetzt.

Der Hauptpreis wurde dem Projekt „SOLID - we don’t build houses“ von Christine Esslbauer, Christine Horner, Tibor Tarcsay und Christoph Hinterreitner zuerkannt. SOLID ist eine technisch hoch entwickelte Wohnzelle, die wie ein aufblasbarer Plasikwürfel ausschaut. Laut Projektbeschreibung passt sie in jede Baulücke und passt sich den Bewohnern an, indem ihre Fassade auf Knopfdruck veränderbar ist. Sie können so die Oberfläche ihres Hauses mit der eigenen Gemütslage abstimmen. Zusätzlich garantiert der Begleittext, dass mittels digitalisierter Projektionen nicht nur die gewünschte Umgebung der Wohnzelle erzeugt werden kann, sondern auch die entsprechenden Nachbarn: „All you have to do is to choose those who fit best to your lifestyle“.

Der zweite Preis ging an „URBAN.SUSHI“ der Gruppe „awg_alleswirdgut“. In diesem Projekt, das im Verkaufsprospekt einer liegenden Dose gleicht, wird mittels drehbarer Elemente ein „Maximum an Flexibilität und Raumerlebnis“ angeboten. Die Elemente sind Hamsterrädern vergleichbar und beinhalten alles, was unter „Grundbedürfnisse des Wohnens“ fällt: Beim Kochen wird dann das Sofa zur Decke usw. Gezeigt wird die „technisch avancierte“ Wohndose auf einem See schwimmend, umrahmt von einer romantischen Gebirgslandschaft.

Der dritte Preisträger - die FUTURE VISION WOHNPASTE des Team TTT&T - verlässt den Boden der Architektur und setzt mit Hilfe der Chemie direkt am Menschen an. Die FUTURE VISION WOHNPASTE hat die Form einer gewöhnlichen Zahnpastatube, ist zum Auftragen auf die Haut bestimmt und verspricht, Sie bei der von Ihnen gewünschten Einwirkung auf ihre Wohnsituation zu unterstützen.

„Verblüffend bei diesem Konzept ist, dass allein die einfache, gewissermaßen unsichtbare Behandlung der körpereigenen Haut genügt, um eine Veränderung der Wohnumwelt zu erreichen. Die Komplexität des Produkts zeigt sich besonders bei den Fragen, die es aufwirft. Denn was bedeutet Wohnen eigentlich oder wie entsteht ein bestimmtes Wohngefühl in einer spezifischen Umgebung? Wie verändert das Produkt die Wahrnehmung?“ (4)

Ja also, was bedeutet Wohnen eigentlich an der Grenze zwischen Rückgriff auf das 20. und Aufbruch in das 21. Jahrhundert?

Zu den Begriffen „öffentlich“ und „privat“:

Beim Beschäftigen mit der Zukunft des Wohnens und vor allem auch dann, wenn es dabei um die Neuen Medien geht, also um das sogenannte „intelligente“, „smarte“, „vernetzte“ und „verkabelte“ Haus, taucht der Begriff „Wohnen als Schnittstelle zwischen Öffentlich und Privat“ auf. Was könnte damit gemeint sein?

„Wohnen-als-Schnittstelle“ bezeichnet Wohnen als einen Ort, als Stelle, die sich dazwischen befindet, als Transitraum vielleicht oder als Schaltpult. Demgegenüber ist aber Wohnen in der Realität kein Ort, sondern eine Aktivität und die Bezeichnung des Wohnens als Schnittstelle verführt schon von Beginn an dazu, das (architektonische) Denken auf einige wenige - vor allem technische - Dimensionen zu beschränken.

Weiters geht die Definition vom Wohnen als „Schnittstelle zwischen Öffentlich und Privat“ darauf ein, dass die beiden Bereiche „öffentlich“ und „privat“ in der aktuellen Gesellschaft, obwohl sie Ausschließlichkeit und Gegensatz signalisieren, nicht klar voneinander zu trennen sind.
Hannah Arendt beschreibt in einer geschichtlichen Aufarbeitung des öffentlichen und des privaten Raumes in ihrem 1958 erschienenen Buch „The Human Condition“ (5) die strikte Trennung zwischen der öffentlichen polis und den privaten Haushalten der griechischen Antike. Die privaten Haushalte galten dort als dem natürlichen Zwang des Lebens, d. h. der Arbeit, der Fortpflanzung und der „natürlichen“ Herrschaft des (männlichen) Familienoberhauptes unterworfen, die polis war der Ort der Politik, in dem eine Freiheit unter (männlichen und freien) Gleichen praktiziert wurde. Diese Kluft zwischen Öffentlich und Privat musste von den (freien) antiken Bürgern quasi täglich überschritten werden. Bereits bei Sokrates wird allerdings der Wunsch laut, „von der Bürde des öffentlichen Lebens befreit zu werden“, und die klaren Trennungen beginnen sich aufzuweichen. In der Neuzeit werden diese beiden Gebiete verstärkt vermischt, Begriffe wie „Haushalt“ und „Ökonomie“, die bei den Griechen dem Privaten zugerechnet wurden, werden nun in den Bereich des Politischen, des „Kollektiven“ eingebracht. Eine neue Unterscheidung entsteht, die zwischen dem „Politischen“ und dem „Gesellschaftlichen“ (6), und es beginnt sich „jenes merkwürdige Zwischenreich, in dem privaten Interessen öffentliche Bedeutung zukommt“ (7), auzubreiten. Der Raum des Gesellschaftlichen ist, laut Hannah Arendt, eine Sphäre, der, im Gegensatz zum öffentlichen politischen Raum, immer etwas Ungreifbares anhaftet und die von ihren Mitgliedern verlangt, dass sie sich wie Teile einer großen Familie verhalten, in der es nur EINE Ansicht und EIN Interesse geben kann. Dieser Raum beginnt in der Neuzeit sowohl das Private als auch das Öffentliche zu absorbieren. Der Gegensatz zwischen Öffentlich und Privat ist, so Hannah Arendt, nur mehr ein scheinbarer.

Seit Hannah Arendts Analyse der öffentlichen und privaten Bereiche haben sich die Vermischungen und Überlagerungen noch verstärkt. Der Begriff „Wohnen als Schnittstelle zwischen Öffentlich und Privat“ reagiert darauf, macht diese gesellschaftliche Bedingtheit aber vor allem an technischen Details, an der Infrastruktur, an Kabeln, Strängen und Leitungen des einzelnen Zuhauses sichtbar. Im Alltag allerdings ist die Vermischung der Bereiche vielfältiger, die Grenzziehungen der „Privatsphäre“ können, je nach Person und Kultur, ganz unterschiedlich gesetzt werden. Welten liegen zwischen einem höflichen Gruß unter Nachbarn, einem Austausch von Worten und einer Einladung in die Wohnung. Und es können auch architektonische Welten dazwischen liegen, ob z. B. überhaupt ein Flur im Wohnhaus vorhanden ist, der hell und attraktiv genug ist, dass die Bewohner und Bewohnerinnen sich dort, wenn auch nur für Minuten, aufhalten möchten.

Wenn in futuristischen Wohnkonzepten das Zuhause wieder vollständig privatisiert wird, angedockt nur jetzt an eine virtuelle, aber abgeschottet von einer realen Umwelt, kommt darin ein für das tatsächliche Wohnbefinden wichtiger Bereich überhaupt nicht mehr vor, der gemeinschaftliche.

Zum „gemeinschaftlichen Raum“:

In einer Studie, die Roderick J. Lawrence mit seinen StudentInnen an der Universität von Genf von 1986 bis 1990 durchgeführt hat (8), wurden die Veränderungen im Verhältnis von gemeinschaftlichem und privatem Raum in Schweizer Mietshäusern zwischen 1860 und 1960 untersucht.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es auch in der Schweiz zu einer Debatte über den Minimalstandard von Wohnungen für die städtische Arbeiterschaft. In dieser Debatte wurde ein sozialreformerischer Anspruch nach besseren Wohnungen mit einem gesellschaftspolitischen Anspruch nach einem „moralischeren Lebenswandel“ der Arbeiter und Arbeiterinnen gekoppelt. Die ambitionierten Absichten der Sozialreformer, der wachsenden städtischen Bevölkerung leistbare und hygienische Wohnungen zur Verfügung zu stellen, brachten die Hausbesitzer in das Dilemma, mit möglichst geringen Erhaltungskosten ein „sauberes“ Haus bewerkstelligen zu müssen. Das führte vor allem dazu, dass strenge Verhaltensregeln für die Hausbewohner aufgestellt wurden. Diese Verbote sollten besonders das Kinderspielen, das Wäschetrocknen und das Säubern von Hausgegeständen im Gemeinschaftsbereich des Hauses unterbinden. Die Hausbesitzer setzten ihre ganze Macht ein, um die Flure, Stiegenhäuser und Eingangsbereiche der Mietshäuser zu einer reinen Durchgangspassage zwischen der Straße und den Wohnungen werden zu lassen. Erreicht wurden diese Verhaltensänderungen durch eine gemeinsame Anstrengung von administrativen und architektonischen Interventionen. Parallel zu den neu aufgestellten Hausordnungen wurde auch der gemeinschaftliche Raum innerhalb des Hauses - Eingangsbereich, Stiegenhaus und Flur - wesentliche verändert, indem Tageslicht, Größe und Ausschmückung reduziert wurden. Ergänzend dazu wurde es in der Schweiz nach dem Ersten Weltkrieg üblich, die Mietshäuser von der Straße abzusetzen und einen Vorgarten zwischen Haus und Straße zu schieben. Dieser Zwischenbereich entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu undefinierbaren Grünflächen rund um die Gebäudeblocks, die nun weder „öffentlich“ im Sinne einer Straße noch „privat“ im Sinne eines Gartens sind.

Als Resumée zeigt die Studie aus Genf zwei Diagramme: Im 19. Jahrhundert waren der private Innenraum der Wohnung und der öffentliche Raum zwei sich überlappende Bereiche, die in ihrer Überlappung einen gemeinschaftlichen Durchgangs- und Aufenthaltsraum schufen. Im 20. Jahrhundert wurden dies beiden Bereiche streng - auch architektonische streng - voneinander getrennt, viele Aktivitäten wurden in die Wohnung verlagert und „privatisiert“. Zwischen das Wohnhaus und die Straße wurde ein „Gemeinschaftsbereich“ aus Grünflächen und Parkplätzen geschoben, der den Charakter eines Niemandslandes hat.

Diese Entwicklung vollzog sich in allen Industriestaaten. Kurze Zeit darauf wurden die daraus resultierenden Probleme offensichtlich und eine intensive Beschäftigung mit der Bedeutung von Kontakt- und Begegnungsflächen brachte Gemeinschaftsräume aller Art hervor. Allerdings nur in einzelnen Vorzeigeprojekten, beim Großteil des Wohnbaus fällt dieser Bereich des Wohnens nach wie vor unter „Luxus“.

WOHNEN ALS ZUKUNFTSVISION – 2

Was bei den preisgekrönten Visionen des zukünftigen Wohnens von „Future Vision Housing“ vor allem auffällt, ist, dass sie vollkommen losgelöst vom Wohnumfeld und von gemeinschaftlichen Bereichen gezeigt werden. Ganz im Gegenteil liegt ihre Zukunftsträchtigkeit scheinbar gerade darin, als singuläre Zellen in einer digital projizierbaren Wohnumwelt zu existieren. Das Ganze geht sogar so weit, dass ich, falls ich das Bedürfnis habe, meine Wohnsituation zu ändern - und ich nehme mal an, das bedeutet, sie zu verbessern - wenn ich also dieses Bedürfnis habe, dann kann ich mir die „Future Vision Wohnpaste“ auftragen und erlange dadurch einen garantiert veränderten Blick auf meine Wohnsituation. Es gibt scheinbar keine Forderungen mehr an die Gesellschaft, ein lebbares Wohnumfeld und Begegnungsräume zur Verfügung zu stellen.

Aus diesem Blickwinkel betrachtet lassen sich die preisgekrönten Projekte in einen aktuellen gesellschaftspolitischen Zusammenhang bringen: An allen Ecken und Enden der Gesellschaft wird das Individuum zu einem „Freien Unternehmer“ und einer „Freien Unternehmerin“ erklärt, die selber für ihre Arbeitskraft, ihren „Content“, ihr Auskommen und ihre Vermarktung - kurzum für ihr Glück - verantwortlich sind. Die Gesellschaft ist zunehmend nicht mehr bereit, Strukturen und Gelder für den gemeinschaftlichen Raum zur Verfügung zu stellen. Und da kommt die Wohnzelle mit der anpassungsfähigen Oberfläche, die der Bewohner bei Bedarf sicherlich auch als Eigenwerbefläche benutzen kann, gerade recht. Die „Zukunftsvisionen“ des Architekturbereichs greifen somit die neuen Forderungen bereitwillig auf und geben denen, für die die „avancierten Technologien“ leistbar sind, eine Wohnbox, digitale Projektionen und einen Anschluss ans Stromnetz mit. Vergessen wird dabei, dass Wohnqualität bekanntermaßen weit über ein Aneinanderreihen von Wohnboxen hinausgeht. Auch wenn diese Boxen mobil sind.

© C. Angelmaier 2002


(1) In: Wettbewerbsfolder "Future Vision Housing", Architekturforum Oberösterreich 2000
(2) In: Franziska Bollerey: Architekturkonzeption der utopischen Sozialisten, München 1977
(3) Margit Ulama: „Future Vision Housing. Ein Vorbericht“. In: Arch+ Nr. 152/153, Aachen 2000
(4) Aus dem Folder über die Wettbewerbsentscheidung.
(5) Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2001 (Originalausgabe: „The Human Condition, Chicago 1958)
(6) „Freiheit hat ihren Sitz im Gesellschaftlichen, während Zwang und Gewalt im Politischen lokalisiert sind und so das Monopol des Staates werden.“ (H. Arendt, Vita activa, S. 41)
(7) H. Arendt, Vita activa , S. 45
(8) Roderick J. Lawrence: „Public collective and private space: a study of urban housing in Switzerland“. In: Susan Kent (Hg.): Domestic Architecture and the Use of Space. An interdisciplinary cross-cultural study, Cambridge 1990

nach oben

www.sizematters.at