Eine Fahndung auf den Straßen Wiens im 20. Jahrhundert.
Die Recherche wurde ermöglicht durch die Kulturabteilung der Stadt Wien
MA 7 / Wissenschaft .
"meine frühesten bewussten erinnerungen an die strasse liegen ca. im alter von 5 jahren:
erstens, dass man erwachsene schrecken kann, wenn man so tut, als ob man bei rot über die strasse geht.
zweitens, dass man von zu hause davonlaufen kann und sich auf der strasse verstecken kann.
drittens, dass man auf der strasse schwarz-häutigen menschen begegnen kann und alte dumme menschen schockieren kann, wenn man als kleines herziges weisses mädchen laut sagt, dass man, wenn man einmal gross ist, einen neger heiraten will.
viertens, dass man sich auf der strasse immer für seine eltern und begleitende erwachsene, aber vor allem für seine mutter genieren muss.
fünftens, dass man fahrradunfälle haben kann.
sechstens, dass man huren und zuhälter, bettler und besoffene sieht.
siebentens, dass man in hundescheisse steigen kann.
achtens, dass man küssende menschen sieht.
neuntens, dass man nicht auf der strasse spielen darf.
zehntens, dass man sich, wenn man von der strasse kommt, die hände waschen muss."
(Aufzeichnungen von Bernadette Stummer ´notizen zur strasse´, 2001)
VERCHIEBUNGEN – PENDEL
Folgt man dem Subjekt auf den Straßen Wiens quer durch das Jahrhundert, dann zeigen sich die Verschiebungen, die darin im Laufe der Zeit zwischen dem Bereich des Privaten und dem Bereich des Öffentlichen entstanden sind. Um es in ein Bild zu fassen: Wurde zu einer Zeit mehr vom Menschen im Öffentlichen Raum sichtbar – z. B. entblößte Knöchel und Schultern der Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts – wurde er gleichzeitig an einer anderen "Front" zurückgedrängt: So setzte nach der Jahrhundertwende parallel zu den umwälzenden Veränderungen in der Mode die Automobilisierung ein, die die Fußgeher und Fußgeherinnen aus ihrem „tagträumerischen Schlendern“ riss und die „unbewussten Schwerverbrecher“ (1) mit Hilfe strenger Verhaltensregeln auf ihren zukünftigen Platz, das Trottoir, verwies.
Ein anderes Beispiel: In den 1950er Jahren gab es sowohl eine massive Ausbreitung des Privatraumes „Auto“ in den Straßen Wiens als auch eine allgemeine Empörung über das „Herumlungern“ von Jugendlichen. Man kann es auch so lesen: Eine Anonymisierung des Privaten in einer mobilen Schutzhülle einerseits und die Zurschaustellung von betont wohnzimmerhaftem Verhalten andererseits.
Und heute? Heute steht den aktuellen Strategien von Stadt- und Verkehrsplanern, durch Zonierungen – Fahrradstreifen, Absperrzäune, Poller etc. – die Handlungsspielräume der einzelnen StraßennutzerInnen massiv einzugrenzen, das grenzenlos Private via Handy gegenüber.
Verändert hat sich also vor allem, in welcher Form das Private auftaucht und auch, in welcher Form es toleriert wird. Der Mensch ist gleichsam eine lebende Schnittstelle zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, seine Form des öffentlichen Auftretens ist (auch) Ausdruck der Verhaltensregeln und Tabubereiche, die von der Gesellschaft jeweils für den Öffentlichen Raum und für das „Zuhause“ aufgestellt werden.
DAS ÖFFENTLICHE
Den Öffentlichen Raum ins Auge zu fassen, bedeutet, sich mit einem der Knotenpunkte einer Gesellschaft zu befassen: Mann / Frau kann sein oder ihr ganzes Leben lang kein kulturelles oder religiöses Gebäude betreten oder auch nie die Nachbarswohnung, aber es wird kaum möglich sein, sich nicht im Öffentlichen Raum aufzuhalten. Bei genauer Betrachtung ist er allerdings schwer zu fassen und entschlüpft in Bilder und Gefühlslagen - der Knoten ist nur zu entwirren, wenn man versucht, den einzelnen Fäden nachzugehen. Einer dieser Fäden ist das Subjekt. Es stellt den Hauptakteur des Öffentlichen Raumes, den Mensch, in den Vordergrund, der ihn benutzt und darin Spuren hinterlässt. Jeder dieser Akteure, jede dieser „Fortbewegungseinheiten“ (E. Goffman) ist wiederum eine Verbindungsstelle zwischen dem Alltag, dem Gesellschaftlichen und dem Politischen seiner Zeit. Das Erforschen dieser Verbindung kann einen Eindruck davon geben, welche Kräfte und Entwicklungen in einer Zeit wirksam wurden und bis zu uns reichen.
DAS PRIVATE
Hannah Arendt beschreibt in einer geschichtlichen Aufarbeitung des öffentlichen und des privaten Raumes in ihrem 1958 erschienenen Buch „The Human Condition“ (2) die Entwicklungen und Verschiebungen des Öffentlichen und des Privaten in der westlichen Geschichte: In der griechischen Antike bestand zunächste eine strikte Trennung zwischen der öffentlichen (aus männlichen und freien Gleichen bestehenden) polis und dem privaten Haushalt, der als dem natürlichen Zwang des Lebens – d. h. der Arbeit, der Fortpflanzung und der „natürlichen“ Herrschaft des (männlichen) Familienoberhauptes – unterworfen galt. In der Neuzeit werden die beiden Bereiche Öffentlich und Privat verstärkt vermischt, Begriffe wie „Haushalt“ und „Ökonomie“, die bei den Griechen dem Privaten zugerechnet wurden, werden nun in den Bereich des Politischen, des „Kollektiven“ eingebracht. Eine neue Unterscheidung, die zwischen dem Politischen und dem Gesellschaftlichen, entsteht und es beginnt sich „jenes merkwürdige Zwischenreich“ auszubreiten, „in dem privaten Interessen öffentliche Bedeutung zukommt“ (3). Der Raum des Gesellschaftlichen beginnt in der Neuzeit sowohl das Private als auch das Öffentliche zu absorbieren. Der Gegensatz zwischen Öffentlich und Privat ist, so Hannah Arendt, nur mehr ein scheinbarer.
Seit Hannah Arendts Analyse der öffentlichen und privaten Bereiche haben sich die Vermischungen und Überlagerungen noch verstärkt und dennoch gibt es für Jeden und Jede von uns ein klares Bewusstsein darüber, was „man“ im Öffentlichen Raum tut und was nicht – auch wenn sich das Spektrum dort erlaubter Tätigkeiten von Zeit zu Zeit verschiebt.